Während meiner Schulzeit habe ich das Zeitfenster des Nationalsozialismus dreimal behandelt. Irgendwann war es schwer, zu folgen: Es wurden meist Jahreszahlen heruntergerattert und Namen von Machthabern abgefragt. Schillernde Ausnahme war die Unterrichtsstunde, als wir „Schindlers Liste“ sahen. Da war es plastisch und greifbar, wie grausam und schrecklich der Holocaust gewesen war. Dennoch, wie das Leben der einfachen Leute und deren Alltag aussahen, darüber wurde viel zu wenig gesprochen. Um aber eine Vorstellung davon zu bekommen, was eigentlich los war in Deutschland zu jener Zeit, brauchte ich andere Bücher.
Der Band „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“ ist ein solches Buch. Hier versammeln sich 37 Menschen, um eine Antwort auf diese Frage zu geben. Und sie vermitteln einen Eindruck dessen, wie weit die Politik der Nazis in den Alltag und das Leben der Menschen hineinreichte. Sie stellen sich aber auch noch andere Fragen: Wer war von Verfolgung betroffen? Wie funktioniert Ausgrenzung? Kann so etwas wieder passieren? Was habe ich damit zu tun?
Hier schreiben Überlebende, Wissenschaftler_innen, jüdische und nicht-jüdische Schriftsteller_innen, Filmemacher_innen, Politiker_innen, Journalist_innen, Mitarbeiter_innen von Gedenkstätten. So verschieden wie ihre Perspektiven sind, sind auch ihre Themen. Inge Deutschkron schreibt als Überlebende, warum es ihre Aufgabe ist, die Erinnerung lebendig zu halten. Wolfgang Seibel beschreibt, was im Eichmann-Prozess geschah, und erklärt Teile von Hannah Arendts Theorie. Sarah Diehl spricht über jüdische und deutsche Identitäten. Gerrit Hohendorf erläutert, was es mit der Euthanasie auf sich hatte. Hermann Vinke berichtet von einem deutschen Soldaten namens Wilm Hosenfeld, der viele Juden und Polen rettete. Wolfgang Thierse hält ein Plädoyer für Berlin als Ort der Erinnerung. Cem Özdemir erinnert daran, dass Erinnerungskultur für Deutsche mit Migrationshintergrund wichtig ist. Karl Braun erläutert, wie die Rassenideologie aufkam, wie sie sich mit bereits bestehenden antisemitischen Vorurteilen verband.
Das Besondere an diesem Buch: Es lässt sich trotz des schweren Themas gut lesen. Es richtet sich explizit an junge Menschen, die Sprache ist zugänglich. Es bietet einen guten Überblick und lässt gleichzeitig Platz für neue Fragen. Denn mehr zu lesen und zu lernen, das lohnt sich immer. Was hat der Holocaust mit mir zu tun? Es gibt viele mögliche Antworten auf diese Frage. Nur eine einzige kann es in Deutschland nicht geben: nichts. Denn selbst wenn in meiner Familie nicht darüber gesprochen wurde, selbst wenn ich keine Überlebenden persönlich kenne, wenn ich niemanden kenne, die oder der historisch damit arbeitet: Die Shoah ist Teil der deutschen Geschichte. Und als Menschen, die hier leben, tragen wir eine Verantwortung. Dazu gehört auch, das Gedenken lebendig zu halten und die Geschichte nicht zu vergessen. Und dafür muss man die Geschichte auch kennen.
Harald Roth (Hg.): Was hat der Holocaust mit mir zu tun? Pantheon-Verlag, München 2014, 304 S., 14,99 Euro
Veröffentlicht in Soli aktuell 5/14